"Child Survivors Deutschland e.V. - Überlebende Kinder der Shoah" als Gäste der

AG Alte Synagoge Petershagen 2015

 

v. Dr. Philipp Sonntag

Flüchtlinge, 70 Jahre später


Wir fragen uns, ob wir Flüchtlinge aufnehmen sollen, ob sie verfolgt waren, wie wir sie integrieren könnten, wie lange alles dauern würde – etwa 70 Jahre? Dazu eine aktuelle Erfahrung: Vom 17. bis 20. September war eine Gruppe früher bis 1945 Verfolgter in Petershagen. In den vier Tagen wurde deutlich: Es macht bis in feinstes Gespür hinein enorm viel aus, wie man, also wie wir mit Flüchtlingen, insbesondere Verfolgten umgehen. Das gilt also nicht nur in den ersten 70 Minuten oder Tagen, sondern auch noch nach 70 Jahren. Wobei die Verfolgten sich stark einbringen können. Zwar können sie ihre Langzeitleiden nicht abstreifen, aber Linderungen, sogar „Kurzzeitfreuden“ sind jederzeit möglich.


Zum ersten Mal nach Petershagen kamen vom 17. bis 20. September 2015 die Mitglieder des Vereins „Child  Survivors  Deutschland  e.V. – Überlebende Kinder der Shoah“. Dies geschah keineswegs zufällig, denn es gab viele Berührungspunkte. Vor Ort wurden sie betreut durch Wolfgang Battermann von der „Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen“.


Der Anlass: Child Survivors treffen sich halbjährlich zum gemeinsamen Gedenken ihres Überlebens trotz der Verfolgung durch die Nazis von 1933 bis 1945. Charakteristisch für Child Survivors ist nicht „nur“, dass sie bis 1945 in Lagern, Ghettos, Im KZ, in Verstecken usw. schier unermessliche Leiden überstehen mussten, sondern akut vor allem die Tatsache, dass sie seit 1945 bis in die Gegenwart vielfältige Langzeitleiden erdulden mussten und müssen. Denn wer bis 1945 über Monate und Jahre traumatisiert wurde, dessen Immunsystem wurde unweigerlich geschwächt, und dessen Psyche wird in der Gegenwart immer wieder aufgewühlt.


Hinzu kam in der Nachkriegszeit, dass die Behörden, oft noch mit Alt-Nazis besetzt, jegliche Versuche von „Wiedergutmachung“, also von wenigstens etwas von Hilfe für die seelisch Verletzten ablehnten, verzögerten oder begrenzten. Sogar in den eigenen jüdischen Familien hieß es oft: „Du warst damals ja noch ein Kind, du hast sowieso nichts mitbekommen“. Das war ein schwerer Fehler, wie Jahrzehnte später Psychologen durch gezielte Forschung zweifelsfrei herausgebracht hatten – und wie im Grunde jeder erahnen kann, der einem Child Survivors zuhört – so jetzt geschehen bei gemeinsamen Besprechungen mit Mitgliedern der „Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen“, welche sich seit 1999 intensiv mit den Spuren der früheren jüdischen Bewohner in Petershagen befasst haben.


Höhepunkt der Begegnungen war entsprechend der gemeinsame Besuch der Alten Synagoge und der dort angrenzenden alten jüdischen Schule in der Goebenstraße.  Die Child Survivors fanden dort eine schier unermessliche Fülle von Gegenständen und Anhaltspunkten aus dem jüdischen Leben, welches in Petershagen seit etwa 466 Jahren dokumentiert ist. Das war für kurze Zeit eine Freude, eine Offenbarung, eine gewisse Entspannung auch über den Moment hinaus.


Wolfgang Battermann berichtete, dass es 1933 etwa 43 Juden in Petershagen gab, von denen nur wenige fliehen konnten, die meisten deportiert und fast alle von den Nazis umgebracht wurden – nur drei kamen zurück. Das klingt für „den“ heutigen Menschen schwer vorstellbar. Child Survivors sind zwangsläufig mit solchen krassen Erfahrungen vertraut. Sie verstehen sofort die vielen Dokumente der Unterdrückung, wie es in den Jahren 1933 bis 1945 allmählich immer schlimmer wurde. Am Anfang war es noch subtile Gewalt, Beispiel: gemeine Bescheide vom Finanzamt, die ein Unternehmen anschaulich nachvollziehbar ruinieren konnten.


Child Survivors sind gerührt von der liebevollen Hingabe, mit der akribischen Kleinarbeit, mit der die Alte Synagoge und die Schule restauriert wurden. So wurde jeder Stein des Fußbodens fein herausgearbeitet, einige Steine sind unter betretbarem Panzerglas zu sehen.


Die Langzeitleiden erfassen auch nachfolgende Generationen. Das wird sofort deutlich an Hand der in vielen Familien erbitterten Spannungen mit den eigenen Kindern (den „2G“, der zweiten Generation und den Enkeln, den „3G“). Den Child Survivors fehlten die Erfahrungen einer gesunden, geborgenen Familie. Deshalb können sie die sonst übliche Geborgenheit nur schwer an die eigenen Kinder vermitteln. Stattdessen sind sie beispielsweise überängstlich. Da kann es passieren, wenn etwa die jugendliche Tochter abends zum Tanzen geht und nicht wie besprochen um Mitternacht, sondern 2 Stunden später nach Hause kommt, dass die Child Survivors als Eltern zutiefst aufgewühlt reagieren. Sie beklagen sich mit bitteren Vorwürfen, sie sind und wirken auf ihre frustrierten Kinder übermäßig fürsorglich. Denn als sie selbst Jugendliche waren, da war es im Alltagsleben oft ein Anzeichen einer tödlichen Gefahr, wenn jemand nicht wie erwartet an einem Ort eintraf.


Sie verstehen in ruhigen Momenten zumeist selbst, das ihre Sorgen übertrieben sind – nur um bei der nächsten Ähnlichkeit von Eindrücken zur Vergangenheit wieder in Panik auszubrechen. Ihr Vertrauen zur Welt, ihr Gefühl einer Geborgenheit, einer Zugehörigkeit in der Welt ist grundlegend gestört. Bei Ablehnungen, schon bei subtilen Ausgrenzungen sind sie überempfindlich. Wenn sie im Wahlkampf Plakate der NPD mit dem Text „Gib Gas“ lesen, dann spüren sie – wie von Nazis gezielt beabsichtigt – augenblicklich, um was für eine gemeine Anspielung es sich handelt. Psychische Spannungen wirken bei ihnen laufend nach Innen, bewirken eine Reihe von Krankheiten durch Belastung.


Umso wertvoller sind für Child Survivors die kurzen Momente, hier vier Tage in Petershagen, wenn sie in ihrem Umfeld freundlich und freundschaftlich aufgenommen werden. Genau so geschah es nun in der Alten Synagoge, im „Jugend-Tagungs- und Gästehaus Petershagen“ und durch viele engagierte Kontakte. Dazu gehörte ein Vortrag von Benni Barth über jüdische Ethik und Kultur, den er gar nicht wie geplant halten konnte, weil er spontan mit einer Fülle von existenziellen Fragen bestürmt wurde: Kann es sein, dass es nach dem Holocaust überhaupt  noch Sinn macht, Gott als zugleich gütig und allmächtig zu bezeichnen? Ist es möglich, aus den Religionen jeweils den starr wortgetreuen Glauben herauszunehmen, um eine Wiedervereinigung der Religionen zur gemeinsamen, natürlichen Religiosität zu erreichen – welche dann im Ansatz den Fundamentalismus ausmerzen würde? Eine nicht ausweichende, zuversichtliche Antwort kann Child Survivors wieder Hoffnung geben. Ebenso kann ein vertrautes Ritual rundum wohltuend wirken – vielleicht war es das Letzte, was ein Kind kurz vor der Shoah noch als wohltuende, friedliche Zeremonie mit den eigenen Angehörigen in einer Synagoge erlebt hatte.


So werden Kurzzeitfreuden möglich. Für einen kurzen Moment kann ein Child Survivors die Mühen und Belastungen des Alltags, der politischen Eindrücke, der psychischen Verzweiflung überwinden. Dazu gehörten die behutsamen Bewegungen mit Hilfe von Tai-Chi. Dazu gehörte im nächsten Moment ein faszinierender Kontrast: Eine überschäumend positive Stimmung schafften die vier jungen munteren Tänzerinnen der Tanzgruppe „Harimon“ aus Dortmund. Die körperliche und seelische Schwerkraft schien aufgehoben zu sein.


An den Reaktionen der Child Survivors können wir ermessen, welche enormen Langzeitschäden die globalen Gewaltakte bei Flüchtlingen, insbesondere Verfolgtenanrichten. Die Schäden wirken nicht „nur“ auf Lebenszeit, sondern noch in den Folge-Generationen. So werden zukünftige Friedenshoffnungen schon im Ansatz vielleicht auf Jahrhunderte erschwert, siehe aktuelle Anzeichen in Nahost. Was wir tun, ist also wichtig, denn umgekehrt gilt: jede liebevolle Geste kann Versöhnen, kann für die Zukunft helfen, Vertrauensbildende Maßnahmen aufzubauen. So können wir „Feinde“ ermutigen zueinander zu finden, welche ansonsten weit von Versöhnung entfernt sind. Deshalb braucht man sich nicht mit der Frage aufzuhalten, ob Flüchtlinge Hilfe brauchen, ob wir helfen können und sollen. Vielmehr ist eine hingebungsvolle und wirksame Hilfe möglich und wirksam. Nicht jedermann kann und muss dies leisten – aber verstehen und gutheißen, vielleicht sogar unterstützen kann es jeder.

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