Die Zeit der Polendörfer
Die Zeit der Polendörfer
Heilloses Durcheinander in den Dörfen
Samstag, 26. März 2011
Petershagen (Wes). Nur selten war in den vergangenen Jahren der große Saal im Alten Amtsgericht so gut besucht wie bei dem Gespräch zwischen der Historikern Sonja von Behrens und den beiden Zeitzeugen Walter Prange (Quetzen) und Heinz Huxoll (Lahde). Dabei ging es um das Thema „Die Zeit der Polendörfer – Displaced Persons im Amt Windheim zu Lahde 1945 bis 1949“. 150 Besucher sorgten dafür, dass alle Sitzreihen und sogar ein Klavierhocker besetzt waren. Bei der Gesprächsrunde handelte es sich um eine von fünf Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen zur bundesweiten Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Minden. Planung und Koordination hatte Wolfgang Battermann von der AG in Zusammenarbeit mit der Stadt Petershagen übernommen. Das Publikum im Alten Amtsgericht war bunt gemischt. Neben vielen Einwohnern aus den acht betroffenen Dörfern und weiteren Besuchern war auch die jüngere Generation vertreten. Für viele ältere Einwohner der Stadt Petershagen wurden unvergessene Ereignisse wieder lebendig. Sonja von Behrens ist Historikerin, Journalistin und Buchautorin. Sie wurde 1966 in Minden geboren, war zunächst Kinderkrankenschwester und studierte dann Geschichte und Medienkultur in Hamburg und England. Nach ihrem Buch „Die Zeit der Polendörfer“ aus dem Jahr 2004 für die Ortsheimatpflege Petershagen arbeitet sie nun an einem Folgeband. Dazu hat sie über 40 Zeitzeugen aus Petershagen und Umgebung befragt. Zwei davon sind Heinz Huxoll und Walter Prange. Sie berichteten über ihre Kindheitserlebnisse beim Einmarsch der Alliierten 1945 und in der Nachkriegszeit. Der 78-jährige Walter Prange wohnt auch heute noch auf dem Hof der Familie in der Quetzer Heide. Bei Kriegsende war er knapp 13 Jahre alt und Pimpf in der NS-Jungenschaft. Sein Vater war Bürgermeister. Er wurde am 15. August 1945 verhaftet, weil er der Partei angehörte. Das Dorf Quetzen war nicht besetzt. Aus Lahde, dem Zentrum der besetzten Dörfer, stammt Heinz Huxoll. Er ist 80 Jahre alt, ehemaliger Landwirt und Kaufmann und Sohn des ersten Nachkriegsbürgermeisters in Lahde. Bei Kriegsende war Huxoll fast 15 Jahre alt. Ein trauriges Ereignis hat ihn davor bewahrt, noch in den letzten Kriegswochen eingezogen zu werden: Da seine Mutter 1944 gestorben war, wurde Sohn Heinz vom Schanzen in Eindhoven zurückgestellt. Alle, die dort eingesetzt wurden, kamen ums Leben. Heinz Huxoll konnte somit das Kriegsende in Lahde erleben. Die 1. Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen, Marianne Schmitz-Neuland, wies darauf hin, dass sich die historische Forschung mit dem Begriff „Displaced Persons“ erst sehr spät befasst habe. Nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland seien sieben Millionen dieser Menschen in den westlichen Besatzungszonen vorgefunden worden. „Das waren Personen, die während des Krieges von den Deutschen aus ihrer Heimat vertrieben, verschleppt und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Den Alliierten gelang es trotz aller Schwierigkeiten, nahezu sechs Millionen dieser Menschen zu repatriieren“, wusste Schmitz Neuland. Die verbliebenen DPs seien in erster Linie Osteuropäer gewesen, die man zunächst in Sammellagern, dann in den von Deutschen geräumten Dörfern untergebracht habe. Zu den Historikern, die sich mit diesem wenig erforschten Gebiet der jüngeren Geschichte befassten, gehöre Sonja von Behrens. „Sie hat sich der Erforschung des DP-Lagers im Amt Windheim zu Lahde, das mit seinen 16 800 Menschen zu den größten Sammellagern in Ostwestfalen-Lippe zählte, gewidmet“, führte die AG-Vorsitzende weiter aus. Sonja von Behren freute sich über viele bekannte Gesichter: „Ich weiß von diesen Menschen, dass sie die Zeit der Polendörfer hautnah miterlebt haben“. Zeitzeugengespräche seien eine unverzichtbare Quelle. In der Wissenschaft habe sich diese Form der Geschichtsüberlieferung erst in den 60er-Jahren richtig etabliert. Zeitzeugenerinnerungen machten Geschichte lebendig und für die jüngere Generation begreifbar. „Ich habe bisher 44 Interviews zu den Polendörfern geführt. Erst gemeinsam mit den Informationen aus den Akten der Deutschen, der britischen Besatzer, der internationalen Hilfsorganisationen und der polnischen oder sowjetischen Selbstverwaltung vervollständigen sie das Mosaik des Geschichtsbildes hier im ehemaligen Amt Windheim zu Lahde“, sagte von Behrens. Ihre beiden Gesprächspartner im Alten Amtsgericht haben in der Nachkriegszeit viel erlebt, vom heillosen Durcheinander bei der Requirierung der Dörfer, der Veränderung der eigenen Lebensumstände, den Problemen bis hin zur Annäherung zwischen Einheimischen und Besatzern. Heinz Huxoll erinnerte daran, dass im Hotel Tonne in Lahde die Militärregierung eingerichtet worden sei. „Ein Teil von Lahde wurde belegt. Gewerbliche Räume blieben verschont. Die Einwohner mussten ihr Hab und Gut zurücklassen und Unterschlupf bei Freunden und Bekannten suchen. Nur das Nötigste wie Betten, Proviant und Einmachgläser konnte mitgenommen werden. Das Vieh blieb im Stall“, wusste der Zeitzeuge. Über ein Chaos ohne Ende in Quetzen mit vielen Evakuierten, Ausgebombten und Flüchtlingen berichtete Walter Prange. Im Bürgermeisterbüro seines Vaters sei wegen der Lebensmittelkarten immer etwas los gewesen. An seinen Vater sei auch oft die Frage gestellt worden: „Karl, wo sollen wir denn hin?“ Die Fahrräder seien bei den Russen und Polen besonders begehrt gewesen. Ab 1946 habe der kirchliche Unterricht in Lahde stattgefunden. „Dorthin sind wir von Quetzen aus zu Fuß hingegangen. Beim Fußballspielen an der Aue haben wir uns mit dem polnischen Jungen Georg angefreundet. Er hat dann auch in unserem Verein TuRa Quetzen mitgespielt“, so Prange. Zudem berichtete er über eine Hochzeitsfeier im Quetzer Nachbardorf Bierde. Dabei hätten sich 50 Russen mit selbstgebranntem Alkohol vergiftet. Die Toten seien in Tücher und Decken gehüllt und einen Tag später in einer leeren Runkelkuhle begraben worden. Heinz Huxoll wies darauf hin, dass viele DPs gehässig gewesen seien: „Man musste ihnen aus dem Weg gehen“. In angrenzenden Dörfern seien abgelegene Bauernhöfe überfallen worden, um Vieh zu rauben. „Die Briten mussten in Lahde für Ordnung sorgen. Die polnische Polizei war ihnen unterstellt. Um 22 Uhr begann die Sperrstunde. Es wurde viel Schnaps gebrannt“, so der 80-jährige Lahder. Nach einem Jahr habe man den ersten Bauern in Lahde erlaubt, ihre eigenen Kornböden zu beziehen. Es sei nicht leicht gewesen, mit den Polen eine Hausgemeinschaft zu bilden. Die DPs hätten Fachwerkscheunen demontiert und Fußböden herausgerissen, um Brennholz zu bekommen. „Diese Zeit war für viele Menschen, die ihr Hab und Gut hergeben mussten, ein Alptraum. Als das letzte polnische Fahrzeug Lahde verließ, hat eine Stunde lang die Kirchenglocke geläutet“, berichtete Huxoll. Weitere Themen der Gesprächsrunde waren einige Artillerie-Volltreffer bei Kriegsende, ein Hospital an der Bahnhofstraße und eine polnische Schule in Lahde sowie die Wiedereröffnung der Quetzer Schule am 7. Februar 1946, Tanzveranstaltungen und Kinovorstellungen im Hotel Tonne. Als Eintritt wurden fünf Mark oder ein Ei verlangt. „Lahde war lange Zeit Dreh- und Angelpunkt. Bis zum Jahr 1960 hat der ehemalige polnische Kommandeur meinem Vater eine Weihnachtskarte geschrieben“, so Huxoll. Zudem ging er auf den katastrophalen Zustand der Häuser nach dem Abzug ein. Eine Kommission sei eingesetzt worden, um die Gebäude zu begutachten und die Schadensregulierung vorzunehmen.
Historikern Sonja von Behrens führte mit den Zeitzeugen Walter Prange (links) und
Heinz Huxoll Gespräche
über 1945 bis 1949 zum Thema „Die Zeit der Polendörfer“.
Bis auf den letzten Platz besetzt war der große Saal des Alten Amtsgerichts bei der Gesprächsrunde, die von der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen ausgerichtet wurde.
Fotos: Ulrich Westermann