90 Jahre bewegtes LebeN
90 Jahre bewegtes LebeN
Als „Kommissar Krukov“ Gefangene verhört
Samstag, 9. Juni 2012
Von Jürgen Langenkämper
Minden/Petershagen (mt). Guy Stern hat es trotz seiner 90 Jahre eilig. Am Tag zuvor aus Detroit eingeflogen, muss er gleich ins Auswärtige Amt in Berlin, dann zu einer Tagung nach Halberstadt, und Donnerstag hält der gebürtige Hildesheimer einen Vortrag im Amtsgericht in Petershagen – nur ein paar Stationen einer Woche in einem langen, bewegten Leben.
Anfang 1922 in Hildesheim als Sohn einer jüdischen Familie geboren, besuchte Guy Stern, dessen Rufname ursprünglich Günther war, häufig Großeltern und Verwandte in Vlotho. „Meine Mutter kam von dort“, sagt er. „Die großen Ferien schienen unerschöpflich zu sein.“ Seinen Onkel, der eine Lack- und Farbenfabrik betrieb, begleitete Guy Stern gelegentlich auf Fahrten, um Kunden im Umland zu beliefern. „Im Auto zu fahren, das war damals noch etwas Ungewöhnliches.“ So lernte er Bielefeld, Herford und auch Minden kennen.
„Mit den Jungen aus Vlotho habe ich an der Weser Fußball gespielt und auch Tischtennis“, erinnert sich Guy Stern. Doch damit war nach der Machtübernahme der Nationalisten 1933 Schluss. Diese bittere und überraschende Erfahrung bedeutete für den Elfjährigen eine Enttäuschung.
Als der Antisemitismus in Deutschland in den folgenden Jahren wuchs, entschieden sich die Eltern, ihren Sohn zu einem Onkel in die USA zu schicken. Onkel Benno gelang es schließlich, die erforderlichen Papiere und ein zusätzliches Affidavit einer Hilfsorganisation für die Immigration deutsch-jüdischer Kinder zu beschaffen, und den 15-Jährigen nach St. Louis zu holen. Dort ging Guy Stern zur Highschool, sparte ein Jahr lang seinen Lohn als Abräumkellner in Restaurants und begann zu studieren.
Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und der Kriegserklärung der Nazis an die USA meldete sich der 20-Jährige freiwillig zum Militärdienst – und wurde wie andere aus Deutschland geflohene Juden als „feindlicher Ausländer“ abgewiesen. Doch 1943 besannen sich die Amerikaner, nachdem sie erkannt hatten, dass sie vor allem die sprachlichen Qualitäten und kulturellen Fertigkeiten ihrer europäischen Exilanten dringend benötigten.
Deutsche Emigranten für Verhöre ausgebildet
„Ich wurde eingezogen und kam nach Camp Ritchie in Maryland“, erzählt Stern. In dem militärischen Ausbildungslager wurde er mit anderen auf seine Aufgaben als Verhörspezialist von Kriegsgefangenen nach der Landung in der Normandie vorbereitet. Schnell fanden die jungen Emigranten aus Deutschland und Österreich heraus, dass die deutschen Soldaten sich vor nichts so fürchteten wie vor der russischen Kriegsgefangenschaft. Sie seien Opfer von Goebbels’ Propaganda geworden, sagt Guy Stern rückblickend – und von einem psychologischen Trick, den er anwandte – hollywoodreif!
Guy Stern wurde in eine Fantasieuniform der Roten Armee gesteckt, drapiert mit sowjetischen Orden und Beutestücken deutscher Kriegsgefangener. Damit schlüpfte er in die Rolle des sowjetischen Verbindungsoffiziers Kommissar Krukov. „In meinem Zelt hing auch ein Porträt Stalins mit einer Signatur: Für meinen Freund Krukov.“
Sein Kollege Fred Howard mimte bei den Verhören den gutmütigen, etwas naiven Amerikaner, der sich „leider gezwungen“ sah, den deutschen Kriegsgefangenen wegen Beteiligung an Einsätzen in Russland an „Kommissar Krukov“ zu überstellen. Spätestens dessen Erscheinen kochte jeden Gefangenen so weich, dass er kooperierte und aussagte.
An deutscher Sprache und Kultur festgehalten
Gegen Kriegsende kam Guy Stern auch in seine zerstörte Heimatstadt Hildesheim und erfuhr von einer Familie, „die zu uns gehalten hatte“, dass seine Eltern und Geschwister ins Warschauer Getto deportiert worden und vermutlich dort umgekommen waren.
Nach drei Jahren in der US-Army und einem halben Jahr bei der Militärregierung in Karlsruhe kehrte der erst 23-Jährige in die USA zurück und setzte sein Studium fort. Einen Bachelor erwarb er in Romanistik, einen Master und einen Doktor in Germanistik, nachdem seine Professoren ihn in seinem Talent bestärkt hatten. Dabei war die Fächerwahl auch ein heikles Thema. „Meine Freunde sagten: Wie kannst du nur nach all dem!“ Doch Guy Stern erkannte für sich, dass die Nationalsozialisten den deutschen Juden ihre Zughörigkeit zur deutschen Sprache und Kultur nehmen wollten. So entschied er sich, diesen Teil seiner Identität nicht amputieren zu lassen und den Willen der Nazis doch noch zu verwirklichen. Mit Erfolg, denn Guy Stern wurde ein anerkannter Hochschullehrer für deutsche Literatur- und Kulturgeschichte.
„Nach Deutschland bin ich erst nach ein paar Jahren wieder zurückgekehrt – als Tourist mit meiner damaligen Frau“, blickt Guy Stern zurück. Doch schließlich entwickelten sich neue Aufgaben. Er hielt Vorträge, so 1998 im Bundestag zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht, wurde vielfach ausgezeichnet und geehrt, jüngst im Mai mit der Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt Hildesheim. Und er lernte seine Frau, die Schriftstellerin Susanna Piontek, in Deutschland kennen – ausgerechnet in Minden.
Ehefrau in Minden kennengelernt
„Meine Frau war 2005 nach einer Lesung noch ein paar Tage in Minden geblieben“, erinnert sich Guy Stern, der damals zu einem Gastvortrag beim Literarischen Verein eingeladen war. Im Anschluss diskutierten beide auf der Terrasse der Familie Hirschberg-Köhler noch stundenlang weiter. Aus dem zufälligen Zusammentreffen entspann sich mehr, und beide heirateten.
Auch mit 90 Jahren ist Guy Stern noch aktiv. Als Direktor einer Abteilung des Zekelman Family Holocaust Memorial Centers in Michigan, des ersten Holocaust-Museums in den USA, kümmert er sich um Altruismus-Forschung und spürt dem Guten im Menschen nach.
Mit Blick auf Deutschland macht dem erfahrenen Beobachter eines Sorge: die Zersplitterung der politischen Landschaft. „Die vielen Parteien, die auftauchen“, sagt Guy Stern und fühlt sich ein wenig an die Weimarer Republik erinnert.
Über den gebürtigen Mindener Wolfgang Hempel, der seiner Heimatstadt in vielfältiger Weise verbunden geblieben ist, kam der Kontakt zur Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge in Petershagen zustande. Auf deren Einladung spricht Guy Stern am Donnerstag, 14. Juni, um 19 Uhr im Alten Amtsgericht Petershagen.
Weit gereister Kenner der deutschen Sprache und Kultur:
Guy Stern spricht auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge über sein Leben. Foto: pr
Donnerstag, 14. Juni,
um 19 Uhr im Alten Amtsgericht Petershagen.