Durch Aufstand dem sicheren Tod entronnen
Durch Aufstand dem sicheren Tod entronnen
Jugendliche treffen bei Gedenkfeier Überlebende des Vernichtungslagers Sobibór / Ausstellung für 2014 geplant
Mittwoch, 13. November 2013
Minden/Petershagen (mt/lkp). Vor 70 Jahren versuchten Häftlinge im Vernichtungslager Sobibór, ihrem Schicksal zu entrinnen, und wagten einen Aufstand gegen ihre Bewacher. An der Gedenkfeier hat im Oktober auch eine Gruppe von Jugendlichen aus Minden, Petershagen und Stolzenau teilgenommen.
Aus Anlass der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Aufstands im Vernichtungslager Sobibór hatte die „Stiftung polnisch-deutsche Aussöhnung“ aus Warschau eine Einladung an eine Jugenddelegation der Dokumentationsstelle Pulverfabrik in Liebenau bei Nienburg ausgesprochen. Beide Organisationen arbeiten zu den Lebenswegen ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter der ehemaligen Pulverfabrik eng zusammen. Zudem sitzt mit Dariusz Pawlos der Direktor der polnischen Stiftung in der international besetzten Expertenkommission der Dokumentationsstelle. Diese begleitet den Liebenauer Verein seit April auf dem Weg zur Verwirklichung der Gedenk- und Bildungsstätte.
Dank der Unterstützung durch Wolfgang Battermann vom Verein „Alte Synagoge Petershagen“ und Ute Müller vom „Haus der Generationen Stolzenau“ begeisterten sich Jugendliche des Ratsgymnasiums und des Herder-Gymnasiums, des Städtischen Gymnasiums und des Marion-Dönhoff-Gymnasiums Nienburg sowie aus der Jugend-AG der Dokumentationsstelle Pulverfabrik für die Idee, mit jungen Menschen aus Israel, den Niederlanden, Polen, Russland, Weißrussland, Armenien, Serbien und der Ukraine einem weitgehend unbekannten Kapitel des Holocaust nachzugehen.
„Ihr seid die Zeitzeugen, wenn ich nicht mehr bin“
In Begleitung von Martin Guse von der Dokumentationsstelle und Ute Müller fuhren sieben 16- bis 22-Jährige in den Distrikt Lublin an der Grenze Polens zu Weißrussland und der Ukraine.
In Sobibór sprachen die jungen Deutschen auch mit Philip Bialowitz, einem der letzten acht Überlebenden des Aufstands, von denen nur drei die Reise zur Gedenkfeier noch auf sich nehmen konnten. Auch im Alter von 85 Jahren treibe ihn die Mission an, solange er lebe, die Erinnerung an die Opfer des Lagers wachzuhalten, denn dieses Versprechen habe er am Tag des Aufstandes gegeben, sagte Bialowitz. Er berichtete von seinen schockierenden Erlebnissen als „Arbeitsjude“ im Vernichtungslager.
Doch dank des Aufstands konnte er sich als Sieger über die Mörder der SS fühlen, nicht als deren Opfer. Den jungen Menschen von heute nahm er ein Versprechen ab: „Wenn ich nicht mehr bin, dann seid ihr die Zeitzeugen der zweiten und dritten Generation. Ihr müsst in eurer Heimat erzählen, was ihr hier erfahren habt.“
Auch die beiden anderen Zeitzeugen, Thomas Blatt und Jules Schelvis, lernte die Gruppe kennen. Ebenso knüpfte sie Kontakte zu den jungen Leuten aus anderen Ländern, besonders aus Israel.
Höhepunkt der neuen deutsch-israelischen Freundschaften war am Jahrestag des Aufstandes die Teilnahme an der offiziellen Gedenkfeier mit mehr 1000 Gästen, „dem spannendsten, interessantesten, schmerzhaftesten, schwierigsten, kompliziertesten und liebevollsten Teil der Reise“, wie es der junge Israeli Nimrod auf Facebook hinterher schrieb.
Als offizielle deutsche Delegation hatte die Gruppe von der Weser Kerzen des Gedenkens an das Mahnmal, den symbolischen Aschehügel für 250 000 Opfer, gestellt – im Anschluss an die Überlebenden und ihre Angehörigen und nach den Politikern und Offiziellen aus Polen, Israel, den Niederlanden und vielen anderen Ländern.
Deutsche Politiker fehlten. Grund dafür waren Missverständnisse über die Gestaltung der geplanten neuen Gedenkstätte in Sobibór, die durch Äußerungen einer Staatsministerin im Auswärtigen Amt – Deutschland habe schließlich hier keine Opfer zu beklagen gehabt – ganz sicher nicht geringer geworden sind.
Auch zwei gebürtige Stolzenauer unter Opfern
Allein 15 Opfer des Vernichtungslagers hatten nach Recherchen der deutschen Gruppe verwandtschaftliche Beziehungen zu Stolzenauer Familien, zwei von ihnen waren gebürtige Stolzenauer. „Auch darum waren wir von unserer Partnerorganisation nach Sobibór eingeladen worden, um zu zeigen, dass sich viele junge Deutsche nicht aus der gemeinsamen Verantwortung des Erinnerns verabschieden“, so Martin Guse.
Die Liebenauer Dokumentationsstelle und ihre Partner aus Stolzenau, Petershagen und Minden wollen im nächsten Jahr die Ausstellung „Aus der Asche von Sobibór“ zeigen. Vielleicht kommt es dann auch zu einem Wiedersehen mit Philip Bialowitz, der auch schon an der Humboldt-Universität in Berlin einen Vortrag über den Aufstand gehalten hat.
Fakten: Sobibór
1942 hatten die Nationalsozialisten im ostpolnischen Sobibór eines der drei Todeslager der sogenannten „Aktion Reinhardt“ errichtet, deren Ziel die Vernichtung der Juden in Ost- und Südostpolen war. Allein in Sobibór wurden mindestens 250 000 Menschen ermordet.
Am 14. Oktober 1943 fand in diesem Lager ein erfolgreicher Aufstand der jüdischen Häftlinge statt. Von den 600 sogenannten „Arbeitshäftlingen“ konnten rund 400 mit dem Mut der Verzweiflung fliehen, aber nur 47 überlebten bis zum Kriegsende.
Moment des Gedenkens:
Rica Riechmann (von rechts), Malte Klimpsch, Martin Guse, Ute Müller und Denis Engelhardt entzündeten Kerzen.
Fotos: pr
Begegnung:
In der Synagoge in Wlodawa sprachen Ute Müller (von rechts), Justus Mackenbrock (Herder-Gymnasium), Malte Klimpsch, Kasimir Heeren (Ratsgymnasium), Finn Bartels (knieend), Denis Engelhardt, Lea Witte, Rica Riechmann (beide Gymnasium Petershagen) und Martin Guse (links) mit Philip Bialowitz.