Horst Selbiger, Zeitzeuge der Shoa
Horst Selbiger, Zeitzeuge der Shoa
„Keine Meinung, sondern ein Verbrechen“
Freitag, 14. November 2014
Von Jürgen Langenkämper
(lkp). Horst Selbiger, Zeitzeuge der Shoa, berichtet heute über sein Leben. Mit dem 86-Jährigen sprach MT-Redakteur Jürgen Langenkämper.
Sie haben die Shoah überlebt. Welchem glücklichen Umstand und vielleicht auch welchem Menschen haben Sie dies zu verdanken?
Meiner Mutter. Sie war Nicht-Jüdin. Bei der Heirat hat mein Vater auf einer jüdischen Erziehung bestanden mit allem Drum und Dran. Ich galt unter den Nazis als „Geltungsjude“, musste den gelben Stern tragen und den Vornamen Israel annehmen. Meine Mutter hat sich aber nicht von meinem Vater scheiden lassen, obwohl sie von ihrer Familie und staatlichen Organen dazu aufgefordert wurde.
In welchem Alter wurde Ihnen bewusst, in welcher Gefahr Sie schwebten?
Als ich eingeschult wurde, 1934. Da war es schon so, dass andere Kinder mich „Itzig“ nannten und „Judensau“ und mich anspuckten, selbst Freunde, mit denen ich vor Kurzem noch gespielt hatte.
Sie gehörten einer großen Familie an. Wie viele haben den Nazis und ihren Helfern entkommen können? Wie viele kamen ums Leben?
Einige sind ausgewandert, nach England und in die USA oder nach Holland. Teilweise wurden sie nach Kriegsausbruch von den Nazis wieder eingeholt. 61 Verwandte sind deportiert und ermordet worden.
Trotzdem haben Sie sich entschieden, weiter in Deutschland zu leben. Warum?
Eine lange Geschichte. Es gab eine Zeit, da habe ich kein Wort Deutsch gesprochen. Da bin ich mit DPs, „displaced persons“, unterwegs gewesen. Eigentlich wollte ich auswandern, aber dann kamen schon die ersten Emigranten zurück. Und ich wollte als Journalist arbeiten. Das ist in einer fremden Sprache, in der man nicht groß geworden ist, schwierig. Und außerdem sollte Hitler nicht recht bekommen und Deutschland nicht „judenfrei“ sein.
Wodurch haben Sie gemerkt, dass die DDR doch nicht der bessere Staat war?
Erstens: Mein Freund und Mentor Heinz Brandt, ein alter Kommunist, der im KZ gesessen hatte, wurde 1953 wegen „Fraktionsbildung“ aus der SED ausgeschlossen. Er ging 1958 in den Westen und arbeitete für eine Gewerkschaftszeitung. Doch 1963 entführte ihn die Stasi, steckte ihn ins Zuchthaus Bautzen. Zweitens der Mauerbau und drittens der „Bitterfelder Weg“, bei dem Künstler raus aus dem Elfenbeinturm und in die Produktion gehen sollten. Ich sollte darüber schreiben und ging in ein Kombinat. Dort habe ich festgestellt, dass ich die gleiche Arbeit machen musste wie unter den Nazis. Plötzlich war ich wieder Bauhilfsarbeiter.
Der Auschwitz-Prozess 1964 war die Gelegenheit, in den Westen zu gehen. Wollte die DDR Sie im Grunde loswerden und schickte Sie deshalb zur Berichterstattung nach Frankfurt?
Natürlich nicht. Ich hatte als Freier Mitarbeiter fürs „Neue Deutschland“ gearbeitet. Organisiert war ich aber im Schriftstellerverband. Durch diese Verkettung habe ich mich entschieden, im Westen zu bleiben.
Sind Sie jemals Generalstaatsanwalt Fritz Bauer persönlich begegnet, dessen Persönlichkeit erst seit ein paar Jahren gewürdigt wird?
Leider habe ich Bauer nicht persönlich kennengelernt. Ich weiß, dass er in der bundesdeutschen Justiz praktisch isoliert war. Von ihm stammt der Ausspruch: „Wenn ich abends mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland.“
Wollen Sie den gerade angelaufenen Film „Im Labyrinth des Schweigens“ über ihn anschauen?
Mit Sicherheit.
Die Anerkennung als rassisch und politisch Verfolgter war im Kalten Krieg in der BRD nicht einfach. Steckte auch noch Antisemitismus dahinter?
Ich musste einen Prozess durch zwei Instanzen führen, um anerkannt zu werden. Die Entschädigungsämter waren mit den alten Leuten besetzt, die vorher die Enteignungen betrieben hatten. Mit Globke als Staatssekretär zogen unter Adenauer die Beamten wieder ein.
Wann haben Sie sich entschlossen, als Zeitzeuge mit Nachgeborenen und Schülern über Ihre Erlebnisse zu sprechen? Was gab den Ausschlag dafür?
Sehr spät. 1945 stand ich ohne abgeschlossene Schulausbildung da. 1942 war die jüdische Schule in Berlin geschlossen worden. Von da an war ich Zwangsarbeiter ohne Ausbildung. Ich hatte kein Geld. Nicht umsonst bin ich mit den DPs umhergezogen. In der DDR konnte ich das Abitur nachmachen. Ich habe mich voll eingebracht, ich war Sozialist. Jüdisch sein stand ganz im Hintergrund. Irgendwann bin ich zu einem Treffen der Kinder der Shoah gegangen, erst im Rentenalter. Obwohl ich immer Mitglied der jüdischen Gemeinde blieb, war ich durch die Shoah und Auschwitz Atheist geworden.
Der 9. November ist ein mehrdeutiges Datum in der deutschen Geschichte: 1918 Republik, 1923 Hitlers Putschversuch in München, 1938 Pogromnacht, 1939 Elsers Attentatsversuch auf Hitler, 1989 Mauerfall. Welches Datum ist für Sie am wichtigsten?
1938! Das habe ich selbst erlebt, gesehen, wie die Synagoge in der Oranienburger Straße brannte und Betten aus dem jüdischen Altersheim geworfen wurden, und ich bin über die Scherben in den Hackeschen Höfen gegangen. Das waren prägende Eindrücke. 1989 habe ich mich darüber gefreut, dass die DDR-Führung gezwungen wurde, mit der Bevölkerung zu reden, bei der Kundgebung auf dem Alexanderplatz. Eigentlich hatte ich gehofft, dass es immer noch eine DDR mit menschlichem Antlitz und sozialistischen Tendenzen geben könnte.
Welchen Rat hätten Sie für heutige Generationen im Umgang mit Nationalsozialismus, Rassismus, Antisemitismus und Totalitarismus?
Durch mein Leben weiß ich, dass Faschismus keine Meinung ist, sondern dass Faschismus ein Verbrechen ist. Das versuche ich, den jungen Menschen weiterzugeben. Ich hoffe, dass die, die mich gehört haben, niemals Neo-Nazis werden. Mit einigen stehe ich weiter in Kontakt. Ich kenne keinen, der rechts gelandet ist.
Weitere Infos im Internet unter www.child-survivors-deutschland.de
Davidstern an der jüdische Gedenkstätte auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Foto: Sven Hoppe/dpa (Archiv)
Horst Selbiger, Jahrgang 1928, Sohn eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter, überlebte die Shoah. Anschließend lebte und arbeitete er in der DDR, 1964 ging er in den Westen.
Horst Selbiger (86). Foto: pr