Einzigartiges Ensemble jüdischen Lebens
Einzigartiges Ensemble jüdischen Lebens
Thema: Das Synagogenensemble Petershagen als authentischer Lehr- und Lernort
Mit der ehemaligen Synagoge und der angrenzenden jüdischen Schule mit Mikwe verfügt Petershagen über ein in Norddeutschland einzigartiges Ensemble jüdischen Lebens. Der Historiker Prof. Arno Herzig hat den Prozess der Rettung mit in Gang gebracht und intensiv das jüdische Leben in Petershagen und Minden erforscht. Seine Aufsätze bringt der Mindener Geschichtsverein als Buch heraus.
Die Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen baut die angrenzende ehemalige Schule zum Lehr- und Lernort aus
Von Ursula Koch
Petershagen (mt). Eine kleine Schulbank in der Ecke ist auf den ersten Blick der einzige Hinweis darauf, welche Funktion dieser Raum neben der ehemaligen Synagoge in Petershagen einst hatte. Von 1844 an bis 1916 wurden hier Kinder jüdischer Familien unterrichtet.
Seit Mitte 2012 ist auch die Schule renoviert und vervollständigt damit die Synagoge zu einem in Deutschland seltenen kompletten Ensemble. Denn in dem Schulgebäude ist der Aufgang für Frauen und Kinder zur Empore untergebracht und beherbergt darüber hinaus auch die Mikwe, das Ritualbad. Mit dem jüdischen Friedhof an der Brandhorststraße, der heute eine Gedenkstätte ist, und den im Ort verlegten Stolpersteinen bieten sich vielfältige thematische Anknüpfungen. Auf den „Lehr- und Lernort“ will die Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen daher den Fokus lenken.
15 Schulklassen haben das Angebot bereits genutzt
„Wir haben hier eine originale Begegnungsstätte“, sagt Wolfgang Battermann. Der ehemalige Pädagoge ist mit seiner Kollegin Marianne Schmitz-Neuland Motor des Projektes. Das Interesse der Schulen sei schon jetzt groß. Bereits im vergangenen Jahr seien etwa 15 Schulklassen nach Petershagen gekommen. Für sie seien eine ganze Reihe von Vorträgen abrufbar. Das Themenspektrum reicht von Juden in Petershagen, dem jüdischen Alltag mit Schule und Synagoge bis zu den Stolpersteinen. „Die Programme können noch weiter ausgebaut werden“, sagt Schmitz-Neuland.
Demnächst soll die Schule mit einem Flachbildmonitor ausgestattet werden, dann können auch Filme gezeigt werden, unter anderem über Kurt Scheurenberg, neben seiner späteren Frau der einzige Holocaust-Überlebende, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Petershagen zurückkehrte, die Ausgrabungen der Mikwe und Diskussionen mit Holocaust-Überlebenden. Eine Bibliothek befindet sich im Aufbau. Zu den Wünschen der Arbeitsgemeinschaft zählt noch ein PC-Arbeitsplatz. Denn eine Schülerin schreibt derzeit eine Facharbeit über jüdische Jugend im Dritten Reich, berichtet Battermann.
Vor dem Untergang im Terror des Naziregimes hatten Juden 400 Jahre lang das Leben in Petershagen mitgeprägt. Schon im 17. Jahrhundert wurde in Dokumenten eine Stubensynagoge erwähnt. Eine Synagoge aus Fachwerk wurde Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, die 1845/46 durch den heute noch erhaltenen Backsteinbau ersetzt wurde.
Eine eigene Schule entstand ab 1844 in dem noch heute bestehenden Gebäude von 1796. Sie sei vom Staat allerdings nie als Elementarschule anerkannt worden, berichtet Battermann. Darum sei die Ausbildung der Kinder von Anfang an ein schwieriges Thema gewesen, denn die Gemeinde musste die Lehrer selbst bezahlen. Das habe zu sehr häufigen Lehrerwechseln geführt. Schließlich seien die Familien Oppenheim und Lindemeyer aus Protest gegen die mangelnde Unterstützung durch die Behörden sogar aus der Kultusgemeinde ausgetreten. 1916 wurde der Unterricht eingestellt.
Archäologische Funde und Erinnerungsstücke
Bei der Restaurierung des Gebäudes sind einige Griffel und etliche Pfeifenköpfe, die den Lehrern gehört haben, wieder aufgetaucht. In dem kleinen Gebäude lag direkt neben dem Klassenraum die kleine Stube, in der die Lehrer mit ihren Familien wohnten.
Die archäologischen Funde sind in einer Vitrine zusammengefasst. Eine zweite enthält Judaica und bietet damit Anschauungsmaterial zum religiösen jüdischen Leben. In einer Dritten schließlich erzählen Alltagsgegenstände von Unterdrückung und Deportation. „Die Einweckgläser gehörten Siegfried Pfingst. Sein Bruder Alfred hatte das EPA-Geschäft am Wesertor in Minden, Siegfrieds Geschäft, das spätere Kaufhaus Becker, wurde in der Pogromnacht zerstört“, erläutert Battermann. Die Likörrömer, für ein Pfund Fleisch eingetauscht, stammten aus dem Haushalt des Arztes Dr. Oppenheim, der als Jude mit Arbeitsverbot belegt wurde und darum mit seiner fünfköpfigen Familie von seinen Ersparnissen leben musste.
Die jüdische Schule bietet viele Anknüpfungspunkte, um Geschichte lebendig zu vermitteln.
Die ehemalige Synagoge in Petershagen ist seit 2003 als Informations- und Dokumentationszentrum für jüdische Orts- und Regionalgeschichte öffentlich zugänglich.
Fotos: Alex Lehn
Fakten:
Die Synagoge Petershagen wird am 10. November 1938 geschändet, die Inneneinrichtung zerstört; das Gebäude blieb aber erhalten
Nach 1945 dient der Bau unter anderem als Lager
1978 besichtigen Prof. Arno Herzig und Wolfgang Battermann das Gebäude zum ersten Mal
1988 wird die ehemalige Synagoge unter Denkmalschutz gestellt
1994 wird die angrenzende jüdische Schule verkauft und dient weiterhin Wohnzwecken
1998 stimmt der Rat der Stadt Petershagen dem Kauf und der Sanierung der Synagoge zu
1999 gründet sich die Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge; die NRW-Stiftung finanziert die Sanierung
2001 Abschluss der Gebäudesanierung; Einweihung im November
2003 wird das Informations- und Dokumentationszentrum für jüdische Orts- und Regionalgeschichte sonntäglich geöffnet
2007 erwerben Stadt und Arbeitsgemeinschaft die ehemalige jüdische Schule
2008 wird die Mikwe entdeckt; der Sanierungsplan muss überarbeitet werden
Mitte 2012 sind die Sanierungsarbeiten abgeschlossen. Synagoge, Schule und Friedhof bilden nun ein einzigartiges Ensemble jüdischen Lebens in Norddeutschland.
Die Pädagogen Marianne Schmitz-Neuland und Wolfgang Battermann bauen das Programm zum „Lehr- und Lernort“ aus.
Petershagen (mt/och). Über das jüdische Leben in Minden hat der Historiker Prof. Arno Herzig viele Jahre geforscht. Seit Ende der 1970er Jahre hat er sich für den Erhalt der ehemaligen Synagoge in Petershagen eingesetzt.
Auch über die ländliche Gemeinde hat er geforscht. In seinem aktuellen Buch „Jüdisches Leben in Minden und Petershagen“, herausgegeben vom Mindener Geschichtsverein als Band 31 der Mindener Beiträge, stellt er Stadtjudentum und Landjudentum umfassend dar.
Die Ehefrau des Historikers arbeitete wie Wolfgang Battermann am Gymnasium Petershagen. Herzig sei es gewesen, der neben ihm und einigen Mitstreitern „den Prozess der Rettung in Gang gebracht“ habe, zeigt Battermann die Verdienste auf. Und auch als er Anfang der 80er Jahre eine Professur in Hamburg übernahm, habe der Historiker weiter über Minden und Petershagen geforscht.
Die erste Erwähnung jüdischer Einwohner in Petershagen datiert Herzig auf 1548. Wie er schreibt, waren die Juden aus zahlreichen Territorien des Alten Reiches vertrieben worden. Einige bischöfliche Landesherren befolgten die päpstlichen Weisungen nicht und boten damit Juden die einzige Niederlassungsmöglichkeit.
„Offenkundig sprach für Petershagen, dass hier das vom Landesherrn verlangte Geleitgeld nicht so hoch war wie in Minden, wo die Summe der Stadtrat einforderte“, schreibt Herzig. Im 16. Jahrhundert habe aber wohl nur eine Familie in Petershagen gelebt.
Der Große Kurfürst, Herrscher über Brandenburg-Preußen, betrieb eine judenfreundliche Politik. Im Zuge dessen wurde für Petershagen 1652 zum ersten Mal eine Synagoge erwähnt. Die sei allerdings auf Mietbasis im Hause eines Christen eingerichtet gewesen, schreibt Herzig.
Die Politik des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I, der eine Zwangsumsiedlung der Juden aus kleinen Dörfern in größere Flecken und Städte verfügte, habe dazu geführt, dass mit zwölf Familien in Petershagen mehr Juden lebten als in Minden. Die Gemeinde habe aber erst 1796 ein unbebautes Grundstück erwerben können, auf dem sie einen Fachwerkbau mit der angrenzenden Schule und Reinigungsbad errichtete. 1845 ersetzte die Gemeinde das Fachwerkhaus durch einen Ziegelbau, der noch heute steht.
Die Kippa wird üblicherweise an Gebetsorten getragen.
Die Pfeifenköpfe wurden in der Schule ausgegraben.
Das silberne Kännchen gehörte einer jüdischen Familie.
Die Mikwe wurde 2008 bei der Sanierung der jüdischen Schule entdeckt.
1548 ließen sich die ersten Juden in Petershagen nieder
Historiker Herzig sieht geringeres Geleitgeld als Anreiz / Im 18. Jahrhundert war die Gemeinde größer als die Mindener
1847 verfügte der preußische Staat, dass sich die kleineren Gemeinden zusammenzuschließen hätten. In der Folge wuchs die jüdische Gemeinde Petershagen in den 1860er Jahren auf die höchste Mitgliederzahl. Für 1871 beziffert Herzig den Anteil der Juden an der Bevölkerung mit 4,6 Prozent.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann 1933 die erneute Verfolgung. Die Synagoge wurde am 10. November 1938, einen Tag später als in den meisten Städten, geschändet. Vertreibung und Deportation löschten die Gemeinde nach fast 400 Jahren aus. Nach dem Krieg kehrten nur Kurt Scheurenberg und seine spätere Ehefrau nach Petershagen zurück. Mit dem am Ort verbliebenen Max Block überlebten damit nur drei von 66 Petershäger Juden!